Erscheinungsjahr: 1980
188 Seiten
ISBN 3-8031-2068-3
Fahrende und Vagabunden
Ihre Geschichte, Überlebenskünste, Zeichen und Straßen
Die Vaganten, die Fahrenden haben kaum Spuren hinterlassen: ihre Kultur ist der offiziellen Geschichtsschreibung kein Thema – nur Steckbriefe und Polizei-Akten berichten von ihrem Leben. Doch der herrschende Schein trügt: Lieder, Traktate, Räubergeschichten, und Moritaten erzählen vom Leben der Fahrenden, das elend und doch selbstbewusst war.
Das Buch zeigt: es gibt eine Geschichte der Nicht-Seßhaften. Sie hatten – über Jahrhunderte – eine eigene Kultur, eigene Kommunikations- und Verbindungswege, sie waren lange Zeit nicht isolierte Tippelbrüder, sondern lebendiges Gegenmilieu: die List der Schwachen gegen die Macht der Starken.
Leseprobe
»In Gefängnissen singen sie oft ihren, von ihnen getrennten Mitverhafteten den Verlauf ihres Verhörs, und was sie ihnen für ihr gemeinschaftlich Bestes zur Nachachtung zu sagen haben, in der Jauner Sprache in Gestalt eines Bußlieds oder sonst religiösen Gesangs vor …« Die meisten Vaganten kennen sich nur beim Spitznamen, der Taufname gerät häufig in Vergessenheit oder kommt erst im Verkehr mit der Obrigkeit zum Vorschein. Deshalb fahndet die Polizei mit Vorliebe nach diesen Spitznamen, sie werden im Gegensatz zum bürgerlichen Namen fast nie gewechselt und nur unter Zwang verraten.
Ein Johannes Reinhard wird also ein »vulgo« Zunderhannes, den Rütsch von Schmalnau kennen seine Kameraden nur unter dem schönen Namen Frißnichts oder Beinchen, den Georg Schmidt unter Tanzstoffel, Georg Friedrich Lang als Hölzerlips. Die Namen bezeichnen meistens eine besonders hervorstechende Eigenschaft des Betreffenden. Im Mittelalter sind es die erlittenen Körperstrafen und Verstümmelungen (»naslos Anna«, »Claiblin mit dem Mal«) oder ein Körpermerkmal (»Plattnäsgen«, »Rotfuchs«, »scheeler Heiner«, »Krummfingers-Balthasar« und tausende andere).
Je mehr Vaganten es gibt, desto ausgeprägter müssen die Namen unterschieden sein; so erfährt man vieles über Herkunft, Beruf und Taten der einzelnen. Da treffen wir Pohlengängers Hannes, den böhmischen Anton, den Schlangenfänger, die Federschimme (Federbettendieb), Klein Schlaumännchen, den blinden Hund, das Offizierchen, das Studentlein, den Schafskopf, das Dotterle (Haar gelb wie Eidotter).
Unzählig wie die Namen, an denen der Eingeweihte erkannt wird, sind auch die Zinken (Zeichen). Erkennungszeichen sind übrigens nicht nur bei Vaganten üblich, sondern auch bei den wandernden Handwerkern: Geheimnisse der Zunft. Der ansässige Meister konnte so den arbeitssuchenden Gesellen leicht auf seine Glaubwürdigkeit hin prüfen.
Es gibt Jadzinken (Fingerzeichen oder Grifflingszinken), die mit der Hand gemacht werden. »Kenzinken« (das Taubstummenalphabeth gehört dazu). Sogar unter dem wachsamen Auge eines Wirtes, sogar der Polizei, erkennt der »kochemer« seine Kameraden: an dem von Daumen und Zeigefinger gebildeten C.
Neben Zinken, die Tierstimmen nachahmen, ist der gemalte, der graphische Zinken, der häufigste. Die ersten bekannten graphischen Zinken sind die Zeichen der Mordbrenner, der Brandstifter aus dem 14 Jh. Ein Verzeichnis aus dem Jahre 1540 zählt schon mehr als 340 solcher Zeichen auf.