Verkaufspreis: 7,- €
Erscheinungsjahr: 2004
Roman, 160 Seiten
ISBN 3-00-013331-3
Swing in blue
In einem Winkel Berlins, wo die Zeit in einem anderen Rhythmus schlägt als sonst in Europa, wo es nach frischem Weißbrot und gebratenem Lamm riecht und fast so viele Sprachen wie in New York gesprochen werden, betreibt Sinti ihren Waschsalon. Dort treffen sich Punker und Palästinenser, Liebespaare, Künstler, durchgedrehte Dichter, Trümmerfrauen und andere Großstadtbewohner, um nicht nur ihre Wäsche zu waschen. Sinti selbst ist eine freie Frau, die kommt und geht, wann es ihr passt. Sie sammelt Männer wie Fortsetzungsgeschichten, denn was sie in dem einen geliebt hat, kann sie in einem anderen weiterlieben, bis eines Tages ein Fremder an Sintis Geheimnisse rührt und sie von ihrer gewohnten Route abbringt. Swing.
Leseprobe
Der junge Mann trat rasch vom Fenster zurück, bückte sich nach seinen Tüten und begann, hektisch darin herumzukramen. „Wissen Sie, um wie viel Uhr die Galerien aufmachen?“ Sinti zuckte die Achseln. Galerien interessierten sie nicht die Bohne. „Woher soll ich das wissen? Die gibt es hier wie Sand am Meer.“
Aus der Tiefe des Jugo-Koffers zerrte er ein graugelbes Gebilde, das er auf dem Fußboden umständlich zu einem überdimensionalen Stadtplan auseinander faltete. Es war kein gewöhnlicher Stadtplan. Straßen und Grünflächen bildeten einen vibrierenden Hintergrund zu Strichen, Kreisen, Pfeilen, übersät von den Spuren einer raschen, unleserlichen Schrift. Die Karte seines Königreichs.
„Wir leben zwar auf dem Balkan, Madame, aber nicht auf dem Mond. Ich habe mich monatelang auf diese Reise vorbereitet, wie Sie sehen.“ Sinti hörte ihm nur mit halbem Ohr zu, denn seine Hände faszinierten sie, die über Berlins unentdeckten Schätzen hin- und herflogen. In den Rillen der kräftigen, sehnigen Finger entdeckte sie die Reste von afrikanischem Ocker und pazifischem Blau. Gemeinsam legten sie den Stadtplan zusammen, Ecke auf Ecke, bis er Postkartengröße erreicht hatte.
„Zeit zu gehen“, sagte er mit einem Lächeln, das Sinti so deutete, als wolle er ihre Bedenken zerstreuen. Ob er mit dem Gedanken spielte, sich aus dem Staub zu machen?
Und wenn.
Davon ließ Sinti sich nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Sie hatte so viele Menschen kommen und gehen sehen. So viele Menschen und Orte hinter sich gelassen. In ihrem Leben war alles in Bewegung gewesen. Was sie in dem einen Menschen geliebt hatte, konnte sie in einem anderen weiterlieben. „Ganz wie Sie wünschen“, sagte sie kühl. „Ich halte niemanden auf.“ In seinen Balkan-Augen blitzte es verdächtig auf, aber er hatte sich sofort wieder im Griff. „Das ist mir schon klar geworden, Madame. Sie haben es nicht nötig, Ihre Verehrer in Ketten zu legen.“