Angelika Kopečný: Überlebens-Geschichten

Erscheinungsjahr: 1999
342 Seiten
ISBN 3-88939-368-3

ÜberLebensGeschichten

Bewältigungsstrategien von Folterüberlebenden im sozialen und kulturellen Kontext

Allein das Wort Folteropfer weckt oft zwiespältige Gefühle: Zum einen Mitleid mit scheinbar hilflosen, seelisch gebrochenen Menschen, zum anderen tiefe Ängste vor dem Grauen, das sie durchlitten haben und das man sich lieber nicht vorstellen mag. Beides verhindert eine echte Begegnung mit ihnen. Dem Schweigen der Folteropfer über das angeblich „Unsagbare“ und ihr Misstrauen gegenüber den deutschen „Gastgebern“, die sie im besten Fall dulden, entspricht das Misstrauen der Gesellschaft gegenüber den Fremden und ihr Schweigen über das „Unsagbare“, nämlich die Verletzung der Menschenrechte.
Dabei verdienen Folteropfer höchsten Respekt, denn sie sind nicht der Folter erlegen, sondern haben „trotzdem ja zum Leben“ gesagt. Wie aber lassen sich Schweigen und Misstrauen auf beiden Seiten überwinden?
In ihrem Buch „ÜberLebensGeschichten“ beschreibt Angelika Kopecny ihren Versuch der Annäherung. Sie bat sechs PatientInnen des Berliner Behandlungszentrums für Folteropfer, die aus Palästina, Sri Lanka, Ghana, Kurdistan, Uganda und dem Iran nach Deutschland geflohen waren, ihr die Lebensgeschichte zu erzählen. Obwohl die betroffenen Menschen auf so belastende und bedrohliche Erfahrungen wie Folter, Flucht und Exil sehr persönliche Antworten finden, spielen die soziale Umgebung, das Überlebenswissen der Herkunftskultur und die damit verbundene Weltsicht dabei eine ganz wesentliche Rolle.
Die „ÜberLebensGeschichten“– von der Autorin behutsam dokumentiert – verdeutlichen diesen bisher wenig beachteten Zusammenhang auf eine sehr ungewöhnliche Art und Weise: Sie erzählen von Schmerz, Gewalt und Tod, aber ebenso von Mut. Widerstand und Lebensfreude!

Leseprobe

Annäherung
Ich warte auf Mohannad, meinen ersten Gesprächspartner, mit einer Mischung aus Angst und Neugier, und mir fällt auf, daß ich mich vor Reisen genauso fühle. Der Gedanke, auf einer Reise zu sein, hat mich bei der Arbeit an diesem Buch fortwährend begleitet. Das unbekannte Land, das ich im Auftrag des Berliner Behandlungszentrums für Folteropfer erkunden sollte, bewohnen Menschen, die Erfahrungen mit Folter oder anderen Formen extremer Gewalt hinter sich haben. Obwohl ich dazu keinen Schritt vor die Tür zu setzen brauchte, war mir anfangs oft zumute, als sei ich ausgezogen, das Fürchten zu lernen. Unterwegs verfolgten mich bis in die Träume Bilder, die denen ähnelten, die sich die Menschen des Mittelalters von den Gefahren machten, die hinter den Horizonten der Christenheit lauerten: Ich stürzte in einen Fluß, dessen reißende Wasser mich geradewegs in den Schlund der Hölle spülten, ich kämpfte gegen blutrünstige Ungeheuer, die meine lächerlichen Forschungswaffen wie Strohhalme knickten. Zu guter Letzt kehrte ich wohlbehalten zurück, um ungewöhnliche Erkenntnisse und einige Freunde reicher. Die Form des Reiseberichts bot sich im Nachhinein auch deshalb an, weil ich etwas Neues entdecken wollte, so vorurteilslos wie möglich, und unter Einsatz meiner ganzen Person. Die abgegrasten Wiesen der Wissenschaft, sicher und bequem zu erreichen, reizten mich nicht besonders. Der bewährte Werkzeugkoffer der quantitativen Sozialforschung, die Daten anhand von Hypothesen am grünen Tisch der Theorie entwickelt, ermittelt und auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft, war für diese Reise nicht geeignet. Oder andersherum: Die Schatzkiste, nach der ich suchte, war mit diesem Schlüssel nicht zu öffnen.

Trotzdem ja zum Leben sagen?
Die Frage, die mich vom ersten Tag im Behandlungszentrum an beschäftigte, klingt sehr einfach: „Warum und wie sagen Menschen mit so schrecklichen Erfahrungen trotzdem ja zum Leben?“ Mein Reisebericht wird also – vielleicht entgegen Ihrer Befürchtungen – vor allem vom Leben handeln, von Überlebensfähigkeiten und Überlebenswissen, das weder statistisch in Tabellen darstellen noch mit einem vorformulierten Fragebogen ermitteln läßt. Das verbietet sich meiner Meinung nach aus ethischen Gründen bei Menschen, denen unter Androhung oder Anwendung von Gewalt Geständnisse herausgepreßt wurden.