Verkaufspreis: 10,- €
Erscheinungsjahr: 2000
Roman, 208 Seiten
ISBN 3-933314-11-9
Unter dem Eis
45 Jahre lang war Albanien ein weißer Fleck auf der Landkarte Europas, von der Außenwelt abgeschottet, verborgen hinter haarsträubenden Gerüchten oder dem rosigen Schleier angeblich paradiesischer Verhältnisse. Als nach den Sturz der Diktatoren tausende von Albaniern auf schrottreifen Schiffen über die Adria flohen, während sich im Lande selber eine beispiellose Zerstörungswut Bahn brach, fragte man sich im übrigen Europa erstaunt, welche seelische Verwirrung und Zerstörung wohl die Diktatur angerichtet hatte.
»Unter den Eis« ist der Versuch, diesem Phänomen literarisch auf die Spur zu kommen, Alicija, eine junge Pianistin, wird Ende der achtziger Jahre als »Volksfeind« auf den »Kahlen Berg« im albanischen Hochgebirge verbannt, wo es nicht einmal der Teufel aushalten würde. Die Bewohner des »Kahlen Berges« sind selbst Fremde, Ausgegrenzte.
Murrash, der Polizist, repräsentiert die Staatsmacht unter allen Umständen, wobei ihm die Liebe zu seiner geistig behinderten Tochter in die Quere kommt. Seine Frau Prente ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Die alte Delphina herrscht auf ihre Weise über das Dorf und ihren Schwiegersohn Ismail, auch einen »Volksfeind«, der sich seelisch »unter dem Eis« eingerichtet hat, um die Verbannung zu überleben und den Diktatoren eines Tages seine Rechnung zu präsentieren.
Das Netz aus Hass und Schweigen, in dem die Dorfbewohner gefangen sind, wird nach Alicijas Ankunft bis zum Zerreißen gespannt. Dennoch schafft sie es, sich ihre Würde, Phantasie und Identität zu bewahren. Auch Ismail wird durch die junge Frau, die sich von seinem offen gezeigten Hass nicht beeindrucken lässt, aus dem mühsam aufrechterhaltenen Gleichgewicht gebracht.
»Unter dem Eis« beschreibt, wie die Liebe und der Glaube an die Kunst eine individuelle als auch kollektive Erstarrung aufbrechen können.
Leseprobe
Von da an ging ich zweimal die Woche zu Diotima. Sie lebte im Fabrikviertel am Rande der Hauptstadt. Warum sie mit so einer ärmlichen Umgebung zufrieden war? Das weiß ich nicht. Sie war eine erfolgreiche Konzertpianistin gewesen und in den Vereinigten Staaten mit Preisen überhäuft worden, wo sie einige Jahre an einer berühmten Universität unterrichtet hatte. Aus irgendeinem Grund, vielleicht aus Heimweh, war sie nach Shqiperia zurückgekehrt und wohnte nun an diesem kümmerlichen, schmutzigen Ort. Sie sah wie ein junges Mädchen aus. Ihr langes Haar reichte ihr bis zu den Hüften. Nie band sie es zusammen oder steckte es auf. Vielleicht war es eine Art von Schleier, um ihr Gesicht dahinter zu verbergen. Ein Gesicht im Schatten der Hutkrempe. Den Hut setzte sie übrigens nie ab. Warum auch, sie trat ja nicht mehr in der Öffentlichkeit auf. Konzerte gab sie nie. Ihre Haut hatte einen goldenen Unterton. Die Nase endete in einem kühnen, klassischen Bogen. Manche Leute hielten uns für Schwestern. Ihre tiefe, rauchige Stimme passte gar nicht zu ihrem engelhaften Äußeren. Die Augen hatten übrigens die gleiche Farbe wie der an den Ellenbogen geflickte, lange Pullover, den sie ebenso wie die eng anliegende schwarze Hose und den Hut nie anzulegen schien. Im Sommer trug sie nur Hirtensandalen, so dass jeder ihre vergoldeten Fußnägel sehen konnte. Goldener Nagellack! Kannst du dir das vorstellen? Den findest du doch in ganz Shqiperia nicht.
Meine Eltern gingen natürlich davon aus, dass ich jeden Montag- und Freitagnachmittag ins Konservatorium fuhr, um mich dort von Diotima unterrichten zu lassen. Ins Fabrikviertel hätten sie keinen Fuß gesetzt, (gab es denn in unserer Stadt arme Leute oder gar ein Barackenviertel? Selbstverständlich nicht.) geschweige denn, mir erlaubt, ohne Begleitung dorthin zu gehen. Sie waren froh, dass die Zeit peinlicher Vorladungen und ernsthafter Ermahnungen wegen ihrer ungeratenen Tochter vorbei war. Ich hatte sogar ein Konzert in Dur! gespielt, mit Schuhen!, und dafür war ihrer Meinung nach Diotimas wohltuender Einfluss auf mich verantwortlich. Sie wären nie auf die Idee gekommen, dass ich zweimal in der Woche den Bus eine Station vor dem Konservatorium verließ, um in einen anderen umzusteigen, der genauso staubig und überfüllt war wie das Fabrikviertel, dies Labyrinth von ungepflasterten Straßen und mit verdorrtem Gras bewachsenen Wegen. An jeder Ecke hupte der Busfahrer schmutzige, struppige Kinder und ebensolche Hunde aus dem Weg, den sie nur mit aufreizender Langsamkeit und bösem Gelächter räumten. Ich drückte mir jedes Mal das Gesicht an der Fensterscheibe platt, um ja nichts zu versäumen. Die mit grünem Schimmel überwucherten gewellten Dächer, die faulenden Holzwände, die mit Packpapier notdürftig verhängten oder verklebten Fensteröffnungen. Verliebt, wie ich war, fand ich alles ungewöhnlich und schön.
Genauso einen struppigen Straßenhund wünschte ich mir, der mich überallhin begleiten würde, auch eine Regentonne vor dem Fenster, aus der Bougainvillea schäumen sollte, kurz ein Zuhause wie das von Diotima, das vom Garten überwältigt und überwuchert worden war, von einem dunkelgrünen, summenden Dschungel.
Die Haustür zur Straße hin war mit einem gewaltigen Schrank verbarrikadiert. Man konnte das Haus nur durch die Hintertür vom Garten her betreten, auf einem verschlungenen Pfad, über den sich Oleander und Hibiskusblüten neigten. Jedes Mal, wenn ich über die Schwelle trat, atmete ich mit leisem Entzücken den unverwechselbaren Duft des Hauses ein, den Duft Diotimas eben, eine Mischung aus Zigarettenrauch, Äpfeln, Teeblättern, Blüten, schimmelnden Stoffen und stockig gewordenem Papier.